Aufsatz von Marlies Strecker

Marlies Strecker war Schülerin in einer Frankfurter Mädchenschule. Der Aufsatz stammt vom 19. Januar 1948. Zu beachten ist die fehlende Möglichkeit, Waren des alltäglichen Bedarfs, Kleidung, Schuhe und Genussartikel zu kaufen.
Vieles, was noch vor dem Krieg, ja selbst während des Krieges käuflich zu erwerben war, fehlte in den Geschäften. Kleider und Stoffe zum Anfertigen von Kleidung, waren häufig trotz Zuteilung gar nicht käuflich, Schuhe waren absolute Mangelware. Oft mussten Kinder barfuß laufen oder mehrere Kinder einer Familie sich ein paar Schuhe teilen. Oft waren Schuhe mangels Reparaturmöglichkeit vollständig zerschlissen. (siehe auch Verfügbarkeit von Schuhen)
Viele Personen träumten daher von den Vorkriegszuständen und es war nicht ungewöhnlich, wenn man sich im Traum 'statt aß'. Kochbücher mit leckeren Gerichten, die mit damaligen Mitteln überhaupt nicht kochbar waren, hatten Saison. Sie vermittelten die lebenserhaltende Hoffnung auf eine kommende Zeit, in der all die Gerichte wieder auf den Tisch kamen Und in der Fantasie wurden sie bereits gekocht.
Natürlich ist alles, was Marlies in ihrem Aufsatz begehrt und kauft absolute Mangelware und zu dieser Zeit kaum beschaffbar.
Genau sechs Monate nach diesem Aufsatz wurde der Traum wahr. Am 20. Juni 1948 wurde für die Bevölkerung überraschend eine Währungsreform durchgeführt. Die DM wurde eingeführt und bereits am ersten Tag der neuen Währung waren die Geschäfte auf wundersamer Weise voller Waren. Der erwähnte Zucker war übrigens als die am längsten rationierte Ware auch noch nach Gründung der Bundesrepublik Mangelware und bis April 1950 nur mit Bezugsschein zu beschaffen. (siehe auch Lebensmittelrationierungen )
Auffällig ist auch der Hinweis auf die vielen freien Plätze in der Straßenbahn. Wiederholt weist Marlies Strecker in anderen Aufsätzen auf die überfüllten Verkehrsmittel hin. Offenbar wurde das als großes Problem der Zeit wahrgenommen.

Die seinerzeit gültige Orthografie und Interpunktion wurde belassen!


Ein Traum

Marlies Strecker 19. Januar 1948

Vorgestern nacht hatte ich einen schönen Traum. Meine Mutter und ich waren in der Stadt. Natürlich war es wie vor dem Kriege. In den Schaufenstern war alles Schöne und Gute ausgestellt. Wir gingen in ein Warenhaus in die Kleiderabteilung. Dort sollte ich ein Kleid bekommen. Die Auswahl war sehr schwer, denn das Angebot war groß. Meine Wahl fiel auf drei Kleider, und da sie mir so gut gefielen, nahmen wir sie alle drei mit.
Als wir einen Stock höher gingen, kamen wir in das Cafe. Dort war wieder dieselbe Auswahl. Bei dem Kaffee war ein Kännchen mit guter Milch, nebenbei auch noch Zucker. Auf der Schokoladentorte waren richtige Schokoladeplätzchen. Auch eine Schüssel war dabei mit guter Schlagsahne. So aßen und tranken wir die feinsten Sachen, die wir uns nur denken können. In dem Aufzug fuhren wir wieder zum Paterre und gingen durch die Schuhabteilung. Da mir ein Paar Schuhe besonders gut gefiel, bekam ich sie auch gekauft.
Nun war es Zeit nach Haus zu gehen. Wir gingen nun noch an kleinen Geschäften vorbei, machten aber trotzdem noch einmal bei einem Juweliergeschäft halt. In dem Laden waren so viele Uhren und Schmuckstücke, daß ich sie gar nicht zählen konnte. Und doch war alles so billig. Für wenig Geld konnte man schon eine kleine Armbanduhr bekommen. Ich bekam ein schönes Armbändchen gekauft, worüber ich sehr glücklich war. Dann fuhren wir in der Straßenbahn, in der wir noch viel Platz fanden, nach Hause. Als ich aber aufwachte, bemerkte ich zu meinem größten Leidwesen, daß es nur ein Traum war. Hoffentlich geht dieser Traum bald in Erfüllung. .

© Horst Decker