Aufsatz von Marlies Strecker

Marlies Strecker war Schülerin in einer Frankfurter Mädchenschule. Der Aufsatz stammt vom 1. Dezember 1947. Zu beachten ist die beschriebene Wohnungsnot und Zwangseinquartierung.
Zwangsbewirtschaftung des Wohnraums, der ja häufig nicht für den Gebrauch mehrere Familien eingerichtet war, bedeutete nicht nur, eigene Zimmer zugunsten 'fremder Leute' aufzugeben und enger zusammenzurücken, sondern auch, die eigene Küche mit der eingewiesenen Familie zu teilen und der 'fremden Hausfrau' bestimmte Zeiten einzuräumen, in der sie dort unter Benutzung allen Hausrats der Wirtsfamilie für ihre eigene Familie kochen konnte. Da in vielen Familien die Küche - als einiger heizbarer Raum und einziger Raum mit Waschbecken - zugleich Wohnzimmer und ständiger Lebensmittelpunkt der Wirtsfamilie war, blieb das nicht ohne Konflikte. (siehe für weitere Informationen zur Wohnraumsituation auch Wohnsituation nach dem Krieg)
Nebenbei erwähnt werden die Überfüllung der öffentlichen Verkehrsmittel, der Mangel an Kleidung und die Rücksichtslosigkeit von Kraftfahrern.

Die seinerzeit gültige Orthografie und Interpunktion wurde belassen!


Nimm Rücksicht auf deine Mitmenschen

Marlies Strecker 1. Dezember 1947

Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu. An dieses alte Sprichwort müssen wir uns halten, im Verkehr wie auch im privaten Leben, zum Beispiel in der Straßenbahn. Es ist ganz gleich, zu welcher Tageszeit wir fahren, sie ist immer überfüllt. Doch dürfen wir nicht mürrisch sein und damit unseren Mitmenschen die Laune verderben. Wir müssen uns immer freundlich und hilfsbereit zeigen und mit gutem Beispiel vorangehen.
Wenn ein Platz frei wird, so sollen wir uns nicht darum streiten, sondern ihn den älteren Leuten überlassen. Damit schaffen wir uns Achtung bei unseren Mitmenschen.
Die Schaffner sind meistens unfreundlich und schellen ab, bevor die Leute eingestiegen sind. Ebenso ist es in der Eisenbahn.
In der Schule ist es genau so, wir müssen immer Rücksicht auf unsere Schulkameradinnen nehmen, ihnen hilfsbereit zur Seite stehen und uns gegenseitig helfen.
Zu Hause bei den Eltern, Geschwistern und Mietern können wir unsere Menschenachtung am meisten beweisen. Wenn wir Untermieter haben und sie sind schon älter, so dürfen wir das Radio nicht so laut stellen, sondern nur auf Zimmerstärke spielen lassen. Wollen sie Wasser in der Küche holen, so müssen wir sie freundlich behandeln und sie nicht merken lassen, daß sie die Untermieter sind, denn sie können ja auch nichts dazu, daß ihr Heim zerstört ist. Es hausen oft 4-5 Personen in einem Zimmer, und man kann sich denken, daß der Streit nicht ausbleibt. Man soll die Küchennutzung einteilen, daß jeder für sich kochen kann.
Auch auf der Straße kann nicht jeder gehen, wie er will, man muß immer auf die Vorschriften der Polizei achten. Viele Fahrer sind auch rücksichtslos gegen ihre Mitmenschen, denn sie fahren oft extra in die Pfützen und bespritzen die Kleidung der Leute, obwohl es so wenig Spinnstoffwaren gibt.

© Horst Decker