Wiedergabe eines Briefs mit Beschreibung der Lebenssituation in Darmstadt 1951

Darmstadt, den 31. Oktober 51

            Mein lieber Junge!

Heute hast Du gewiß keine Schule gehabt, denn es ist Reformations-
fest. Darüber hast Du Dich bestimmt gefreut. Wir haben hier keinen
Feiertag, aber die Schulkinder sind auch zu Hause geblieben. Über
Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Weniger erfreut war ich
über die Vieren in Deinen beiden letzten Arbeiten. Waren Sie
denn so schwer oder hast Du Dich in der neuen Klasse noch nicht
richtig eingelebt. Ich hoffe doch, daß Du in der Sexta gut mit-
kommst. Gelt, darüber schreibst Du mir auch einmal ganz offen.
Du mußt wissen, daß Du zu mir mit allen Deinen Sorgen und Nöten
immer kommen kannst. Nur verschweigen darfst Du mir nichts.
Versprichst Du mir das? Mutti hat mir im letzten Brief die
Grüße von Herrn Dr. Lubenow übermittelt. Sage ihm bitte meinen
herzlichen Dank und ich lasse ihn auch grüßen. Wie sind die
Lehrer zu Dir und wie die anderen Schüler? - - Am Sonnabend habe
ich hier auf einem freien Platz ein Schaufliegen von Flugmodellen
gesehen. Das ging so vor sich. Ganz kleine Flugzeuge mit einem
Durchmesser von 30cm hatten einen kleinen Motor eingebaut und
waren an einer 10 bis 15m Leine an einer Tragfläche
angebunden. Das andere Ende der Leine hatte der Mann in der
Hand. Der Motor wurde angelassen und die kleine Maschine erhob
sich in die Luft, konnte aber durch die Leine nicht fortfliegen,
sondern drehte sich, so wie sich der Mann drehte, im Kreise
herum. Durch Bewegungen mit der Leine machte das Flugzeug allerlei
Kunstflüge. Es flog auf dem Rücken, es machte Loopings und Steil-
und Sturzflüge. Nach einigen Minuten war der geringe Brennstoff
verbraucht und das Modell landete wieder. Dann stellte sich
ein anderer Mann mit seinem Modell in den Kreis und führte sein
Maschinchen vor. Es war eine lustige Angelegenheit. - - In letzter
Zeit habe ich festgestellt, daß Darmstadt auch ein Freibad hat
mit einem schönen Sprungturm und einer Wasserrutschbahn. Auch
ein Hallenschwimmbad besitzt Darmstadt. Für Deine Schwimmkünste
ist also gesorgt, wenn wir hier unser zu Hause aufschlagen soll-
ten. - Wie ich Mutti schon schrieb, war ich am Sonntag an der
Bergstraße. Das bergige Land, das sich von Darmstadt bis
Heidelberg hinzieht. Ein Garten geht in den anderen über, ohne
das dazwischen ein Zaun ist. Hunderttausende von Obstbäumen
daß es besonders im Frühjahr, wenn die Bäume alle blühen,
besonders schön sein soll. Mir hat es jetzt schon sehr gut
gefallen. Wir waren auch auf der Burg 'Frankenstein'. Sie
ist noch einigermaßen gut erhalten und hat Mauern, die sind
wenigstens 2 m breit. Vom Turm hat man einen sehr guten
Ausblick in den Odenwald. man sieht auch das Rheintal. Aber
am Sonntag war es so diesig, daß ich den Rhein nicht sehen
konnte. Von Darmstadt ist es auch zum Rhein nicht weit.
Man kann bequem in einem halben Tage hin fahren (mit dem
Rad, meine ich). Sollten wir einmal hierher ziehen, dann
können wir schöne Spaziergänge und -fahrten machen. Auf den
Straßen ist hier aber sehr reger Autoverkehr. Vor allem
fahren sehr viel Amerikaner mit ihren großen, breiten Wagen.
Die Fahrzeuge der Besatzungstruppen werden überwiegend von
Negern gesteuert. Man sieht hier sehr viel schwarze
Truppen. - - Ja, mein Piepmatz, Du hast es ja fein gemacht, daß
Du nun weißt, was Mutti sich zu Weihnachten wünscht, und was
Du ihr schenken willst. Aber ich möchte doch auch gerne wissen,
was ich ihr schenken könnte. Würdest Du einmal horchen?
Und weiter möchte ich Dich bitten, mir auch Deinen Wunschzettel
im nächsten Brief mitzuschicken. Hier geht doch der Weihnachts-
mann schon herum und sammelt diese Zettel der Kinder ein.
Wenn ich zu spät komme, dann hat mir ein anderer alles Schöne
weggekauft. Darum bitte, setz' Dich einmal hin und schreibe.
Und noch eine Bitte habe ich. Am 12. November ist doch unser
Hochzeitstag. An diesem Tage habe ich der Mutti doch immer
eine kleine Freude gemacht, indem ich ihr einen Blumenstrauß
und etwas Süßes in den Schoß gelegt habe. Würdest Du das in die-
sem Jahr mit der Ulle zusammen machen? Ich schicke Euch beiden
in den nächsten Tagen Geld und dann besorgt ihr beiden das.
Gelt, mein Junge, das wirst Du fein besorgen.
Nun freue ich mich schon wieder auf Deinen nächsten Brief
und grüße und küsse ich recht herzlich
            Dein Pappi

© Horst Decker