Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen'

Brief geschrieben am 27. Juli 1944 innerhalb der Familie v.d. Leck-Eysen

geschrieben am 27. Juli 1943 von Erna Kreuter aus Gießen an Mutter v.d. Leck-Eysen an Mutter in Garding (Schleswig-Holstein). Im Brief berichtet sie über das Stauffenberg Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 und über die 1. Bombardierung Gießens am gleichen Tag.



Gießen, d. 27. XII.44
Meine liebe Mutter,

wir hörten länger nichts von Dir und
sind dann immer gleich in Sorge,
Dir könnte nicht wohl sein. Vielleicht
geht ja aber auch mancher Brief durch
Feindeinwirkung verloren.
Am 20. Juli, dem Tage, an dem Verbre-
cher versuchten, den Führer zu töten
u. damit ganz Deutschland ins Verder-
ben zu stürzen - Gott aber hat ihn
beschützt - an demselben Tage hat
Gießen seinen 1. Angriff erlebt. Wir waren
in der Kirche und dachen nichts Böses, da
die Feinde auf dem Rückflug waren.
Auf einmal ging es sch- sch- t -
bum. Du kannst Dir denken, wie
schnell wir im Keller waren. Unser
Haus lag gerade in ihrer Flugrichtung,
und die Wilhelmstr. bekam 3 Brandbom-
ben, 2 in Rinns Garten u. eine
größere im Garten daneben, dicht am
Tor. In der Frankf. Str. fielen 3 in Häuser.
An Toten sind 6 zu beklagen. Wetzlar
wurde ja im Wehrmachtbericht genannt,
außerdem bekamen Nauheim (Kurhaus)
und Friedberg etwas ab.

Jetzt stehen wir natürlich nachts sofort auf.
In der Nacht des 20. rief uns der Kreisleiter
um 1 Uhr an u. weckte uns, damit wir den
Führer sprechen hören konnten, wir blieben
bis gegen 2 1/2 Uhr auf und hörten noch Dönitz
u. Göring. Es gibt nur eine Stimme hier:
Abscheu u. Empörung für die Verbrecher und
tiefste Dankbarkeit u. Freude, daß der Führer
gerettet wurde. Eben habe ich Göbbels Rede,
die wir gestern abend hörten, nochmals gelesen,
und allmählich formt sich ein klares Bild
über die verrückten Vorgänge. Aber ein Gutes
ist dabei: das deutsche Volk, das anfing müde
zu werden, und ein Ende herbeisehnte, ist
wachgerüttelt u. hat sich darauf besonnen,
daß es selbst seine ganze Kraft einsetzen
muß, wenn unsere Soldaten da draußen
zu jeder Minute ihr Leben einsetzen.-
Mit der Sommerreise ist es Essig geworden.
Reichenhall ist für die Münchner beschlagnahmt,
und so bekam Joseph vor 8 Tagen die Absage. Anzüge
und Kleider waren fix u. fertig gerichtet. Wir
haben uns sofort mit Marrzell in Verbindung
gesetzt. Aber vor dem Herbst ist nichts zu wollen.
Nun macht Rena ihren 14-tägigen Kriegsein-
satz, den sie bei Joseph draußen machen darf
u. durch 8 Tage Röteln unterbrochen werden
mußte, zu Ende u. fährt am Dienstag
ein paar Tage nach Wiesbaden zu Belluffs.
Ihr Zeugnis ist sehr gut, lauter 2er, in

allen 3 Fremdsprachen, und nur 4 Dreier.
Sie hat sich sehr gemacht. Jetzt ist sie also Prima-
nerin. Sie ist bald einen Kopf größer als ich
u. sieht ganz damenmäßig aus in ihrem
neuen Schneiderkostüm, das sie aus einem
blauen Anzug von Joseph bekommen hat.
Wann ich nach Garding komme, schreibe ich
Dir noch. Die nächste Woche wird wohl entschei-
den, wann Joseph fort kann. Und ich muß
fahren, wenn er u. Rena hier sind. Denn
nach diesem Angriff kann man das Haus
nicht allein lassen. Ich hoffe ja auch, daß bis
dahin die Einflüge weniger werden. Es
ist natürlich ein unbehagliches Gefühl, wenn
man hört, daß Züge beschossen worden sind.
Vielleicht sind die von Dr. Göbbels angekündigten
neuen Waffen bis dahin schon eingesetzt u.
halten die Tommies fern.
Leni ist noch in Italien, schickt aber eine
Militärkiste mit einem Teil ihrer Sachen.
Fritz ist in Südfrankreich u. Milly kommt
morgen hier durch mit den Kindern,
die sie für die Ferien nach Berlin holt,
abends aber im Bunker schlafen läßt.
Ich habe einen kleinen Kuchen gebacken,
den ich ihnen mitgeben will.
Heute abend kommt der Oberregierungs-
rat Schmitt mit seiner Braut zu uns.
Sonnabend heiratet er eine Arzthilfe von

Nauheim, die er seit 3 Jahren kennt, da er sich
von ihrem Arzt behandeln ließ. Sie ist die Tochter
eines Gießener Häusermalers, 35 Jahre alt, also
27 Jahre jünger als er. Du kannst Dir denken,
daß Gießen Kopf steht. Er hat auch schwere Kämpfe
mit den Kindern gehabt, da die Braut nur
1 Jahr älter als Wilhelms älteste Tochter ist.
Er hatte wirklich die Auswahl! Mich hat er brieflich
u. mündlich um Rat gefragt, ich habe ihm und
ihr ganz ehrlich u. aufrichtig meine Bedenken
gesagt. Sie sehen alles ein, glauben aber Beide,
alle Klippen umschiffen zu können. Es
liegt ja auf der Hand, daß in der Stadt ihr
egoistische Gründe (Titel, Stellung, Versorgung)
untergeschoben werden. Aber ich muß auch sagen,
daß sie ein ernster, gediegener Mensch ist.
Jeder ist seines Glückes Schmied. Die Zukunft
wird ja zeigen, ob sie das Richtige trafen.
Doch ich muß schließen, ich habe täglich einzu-
kochen, habe bald 100 Gläser Gelee u. Marmelade,
Erbsen, Wurzeln u. Blumenkohl eingemacht.
Dazu spielt Frau Mais wieder krank. Aber
Joseph hilft mir abends treu.
Und nun, liebe Mutter, hoffen wir, daß
ich in einigen Wochen bei Dir sein und
Dich holen kann und vor allem, daß unser
Haus in Zukunft verschont bleibt! Das ist
ja Vorbedingung für alles! Also halte Dich
tapfer, liebe Mutter, Deine alte Energie hat Dir
ja immer geholfen. Wenn Du erst hier bist,
kannst Du Dich in aller Bequemlichkeit
pflegen. Grüße von uns allen!
Deine Erna.

(Anm:Dem 4-seitigen Brief lagen 3 Zeitungsausschnitte
mit Berichten zum Attentat vom 20. Juli 1944 bei.
)

© Horst Decker