Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen'

Brief einer Gießener Geschäftsfrau an ihre Mutter in Schleswig-Holstein, 2. April 1944

Gießen, d. 2. IV. 44

Meine liebe Mutter,
      heute, Sonntagnachmittag, will ich meinen
Osterbrief an Dich richten u. Dir die herzlichsten
Grüße schicken. Joseph muß morgen nach
Nauheim zum Professor Weker, dem Herzspezia-
listen, auf Wunsch von Dr. Meyer; am Dienstag
fährt er dann nach Manzell. Wir folgen
am Donnerstag, wenn die Tommies
uns keinen Strich durch die Rechnung ma-
chen. Denn täglich sind sie mehrere Male
da. An dem Abend dieser Woche, als die Rekord-
zahl abgeschossen wurde, fand über Gießen
eine große Luftschlacht statt. So wurden hier
u. Umgebung fast 30 Stück abgeschossen! Nun
wage ich kaum, fortzufahren. Andererseits brauche
ich ein paar Tage Ruhe nach diesen schweren
Monaten u. nach der Grippe, die mich diese
Woche gepackt hatte, die ich aber ziemlich über-
wunden habe. Morgen wird mein gutes
Eßservice u. Kaffeservice im Keller in große
Kisten gepackt. Die Brücken kommen herunter

und die besten Kunstgegenstände, ebenso
die Familienbilder, die ja nie mehr zu
ersetzen sind.
Nach Ostern zieht dann ein Ingenieur-Ehepaar
mit Sohn oben ein. Sie bekommen das
Bügelzimmer, das ihre berliner Firma selbst
herstellen läßt, u. das kleine Fremdenzim-
mer neben Frau Bruchs Küche. Die 2 unteren
Fremdenzimmer habe ich bis jetzt noch frei-
behalten. Sollten sie mir auch noch genom-
men werden, dann schlage ich ein Bett für
Dich in Renas früherem Zimmer auf, das
sich sehr gemütlich machen läßt u. nur an
Schneidertagen, die ja nicht oft eintreten, von
uns benutzt würden.
Frau Mais will versuchen, nach Ostern mir wie-
der etwas zu helfen. Dann mache ich mich gleich
an den Hausputz. Ich weiß nicht, wie schnell
sie wieder abfällt. Im Mai hole ich Dich dann.
Bis dahin wird man klarer sehen.
Frankfurt u. Offenbach sind so ziemlich erledigt.
Wir haben hier im Bahnhofsdienst viel erlebt,
das kannst Du Dir denken.
Renas Zeugnis ist gut ausgefallen. Sie sind
jetzt inoffiziell in der Unterprima, d.h. dem
Lehrstoff nach, dem Namen nach aber erst im Som-
mer. Leider hat sie seit dem 1. Male noch nicht
wieder ihre Periode gehabt. Es ist merkwürdig, wie
viele Mädel heute Schwierigkeiten damit haben!
Wie geht es mit Deiner Gesundheit, liebe Mutter?
Hoffentlich hat sie sich so gebessert, daß Du fertig
wirst! Ich weiß, wie es ist, wenn man nicht kann u.
doch muß. Von Gertrud habe ich lange nichts gehört.
Sei herzlich gegrüßt von uns allen!

Deine Erna

© Horst Decker