Brief aus Böhmen (Protektorat) an Ehefrau in Frankfurt/Main, geschrieben am 19. September 1944 im Transportzug in der Nähe von Prag

Die Truppe, der Dr. Schneider angehört, befindet sich auf dem Rückzug aus der französischen Somme-Region und hat mittlerweile Prag erreicht, wo die Truppe anstelle in Königsbrück neu organisiert werde soll.

Unterwegs d. 19. 9.

Meine liebe, gute Frau!
Also, alles ist umgeworfen. Nicht
nach Königsbrück bringt uns der
Transportzug, sondern nach dem Protek-
torat. (Anm.Protektorat Böhmen und Mähren - Tschechoslowakei).
Heute morgen frühzeitig habe ich mich in
Leipzig auf den Weg gemacht, um
Richtung Königsbrück zu fahren. Von
unserem 2. Transportzug war in Leipzig
nichts zu entdecken. Dann bin ich zum
Bahnhofsoffizier gegangen und habe
mir einen Fahrschein nach Königsbrück
ausstellen lassen und bin schließlich,
da der IFR-Zug Verspätung hatte,
mit einem Personenzug langsam nach
Dresden gegondelt. Um die Zeit totzu-
schlagen, habe ich mich da vor der
Abfahrt eines Zuges nach Königsbrück
nach den Militärtransporten erkundigt

und dabei mit Erstaunen feststel-
len müssen, daß im Protektorat,
wie es scheint, unsere Neuaufstellung
vor sich gehen soll. Bei der kritischen
Lage auf dem Balkan dürfte das
aus militärischen Gründen ja auch rat-
sam sein.
Ich schnappte daher noch rechtzeitig
einen Transport unserer Division, die
Abteilung war wegen unserer Zugverspät-
tung inzwischen schon entschwunden.
Es war der Divisions-Nachschubführer,
wo ich einige nette Herren antraf.
Mit einer anständigen Erbsensuppe
wurde ich empfangen.
Dabei lernte ich einen Stabsarzt ken-
nen, der in Kulnau geboren war und
Betsche sehr gut kannte. Anknüpfungs-
punkte gab es also genug.
In Bodenbach gab ich einem Wagen-
meister ein Telegramm an Dich auf,

was Dich hoffentlich auch erreicht hat.
Ja, Frauchen, das Soldatenleben ist
doch sehr beweglich. Nun brauche
ich auch nicht mehr dem Gedanken,
Dich von Königsbrück in Betsche leichter
aufsuchen zu können als in Frankfurt,
nachtrauern.
Glaub mir, meine Sehnsucht nach
Dir in diesen Tagen war mal, nein
ist und bleibt grenzenlos. Meine
letzten Briefe mögen Dir dafür ein
beredtes Zeugnis gewesen sein, wie
nahe mir unsre jetzige Lager im
großen Weltgeschehen geht. Freilich sind
wir nur ein ganz kleines und winziges
Schicksal in alledem. Und dennoch
füllt uns die gegenwärtige Lage so
vollkommen aus, daß man das Gedenken
um einen herum nur schwer verstehen
und fassen kann.

Frauchen, ich muß es Dir halt im-
mer wieder sagen und das ist gewiß
keine verliebte, ich meine blind ver-
liebte Phase, ein Leben ohne Dich
ist für mich kein Leben mehr.
Ja, und das gleiche weiß ich von Dir.
Muß da nicht immer wieder unsre
Zielsetzung darin gipfeln, sich dem
anderen zu erhalten?
Liebling, ich bin so glücklich, Dir
das sagen zu können.
Was auch kommen mag, ich bin
stets bei Dir wie Du bei mir. Das
muß und wird unser Halt sein
und bleiben.
So laß Dich - wir fahren schon im
Protektorat kurz vor Prag - innig um-
armen, Dich lange und lieb küssen
von Deinem Schneider

© Horst Decker